„So viele Kinder – wo war mein Gott?“ 6. Mai 20256. Mai 2025 Enormer Besuch bei Lesung in Dallau Solch großen Besuch hatten weder Initiator Richard Lallathin noch Ortsvorsteher Siegfried Englert bei der Lesung aus dem Buch „Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“ im Dorfgemeinschaftsraum Dallau erwartet – Magdalena Guttenberger verschlug es vor Rührung zunächst fast die Sprache. Doch nur fast, sie erhob sich vor den über 80 Besucher*innen im Saal und und rief sehr bewegt: „So viele Menschen, ich danke Ihnen sehr, dass sie alle gekommen sind!“ Autorenduo genießt Atmosphäre der “Wohlgesonnenheit” Siegfried Englert begrüßte die Gäste, insbesondere auch die zahlreichen Besucher von „außerhalb“, und danke Richard Lallathin, dass dieser mit seinem Beitrag in der Ergänzungschronik zum 1250-jährigen Bestehen Dallaus das „Gedächtnis aufgefrischt“ und auch die Lesung im Rahmen des diesjährigen Gedenkens an die Deportation und Ermordung der Sinti und Roma aus Mosbach und Umgebung während des Nationalsozialismus vorbereitet habe. Lallathin berichtete vom nachmittäglichen Ortsbesuch Magdalena Guttenbergers am Kindheitsort ihrer Schwiegermutter, dem Platz in Dallau, an dem das einstige „Hammel-Haus“ gestanden hatte. „Da haben mir die Knie gezittert“, sagte Frau Guttenberger, lesen könne sie auch gerade vor Aufregung nicht, das müsse Mitautor Manuel Werner übernehmen. Werner bedankte sich zunächst für die „Atmosphäre der Wohlgesonnenheit“, die er und Magdalena Guttenberger in Mosbach und Dallau erlebten und die außergewöhnlich sei. Gemeinsam mit seiner Co-Autorin erläuterte er zunächst das Entstehen des „vielschichtigen Lebenspanoramas“, das Martha Guttenbergers (1921 – 2009) Biografie sei. Deren Schwiegertochter habe seit 1972 bei den Erzählungen Marthas sich Notizen auf Sinalco-Abrechnungsblöcken gemacht, diese Notizen seien die Grundlage zu dem umfangreichen Werk geworden. Magdalena Guttenberger ergänzte, dass sie von den älteren Angehörigen der Minderheit sogar vor dem Aufschreiben gewarnt worden sei, „denn wenn wieder Verfolgung drohe könnten Aufschriebe für Nachstellungen missbraucht werden“. Zum Lesen sei sie gerade zu aufgeregt, sie steuere aber zum Abend Geschichten bei, die nicht niedergeschrieben seien. Aufgewachsen in der Familie des Geigenbauers, Musikers und Händlers Karl Reinhardt und seiner Frau Maria war Martha mit ihren zahlreichen Geschwistern, die Familie sei außerhalb des Winters „immer auf der Reis'“ gewesen, mit Pferd und Wagen im süddeutschen Raum. Das Wandergewerbe habe unter zunehmenden Schikanen zu leiden gehabt. Mit Anbruch der „schlechten Zeit“, der Machtübernahme durch die NSDAP 1933, habe die Bedrängnis zugenommen. Angehörige der Sinti und Roma seien schon ab den 20er Jahren in ihren Personaldokumenten mit einem „Z“ gebrandmarkt, ohne Anlass seien von den Mitgliedern der Minderheit Lichtbilder gemacht und Fingerabdrücke genommen worden. Unter den Nazis sei dann diese Praxis auch auf die Juden ausgeweitet worden. 1939 seien die als „Zigeuner“ diffamierten Sinti und Roma dann „festgesetzt“, ihnen die Freizügigkeit versagt und sie am Ort ihres Aufenthalts praktisch interniert worden. Die 10-köpfige Familie Reinhardt befand sich zu diesem Zeitpunkt in Dallau und wurde im sogenannten „Hammel-Haus“ untergebracht. Vom Argwohn vieler Einheimischer, von dem im Buch geschrieben ist, war an diesem Abend nicht die Rede. Vater Reinhardt habe im Steinbruch gearbeitet, die Kinder seien in die örtliche Schule gegangen. Anrührend ein Bild vom Weißen Sonntag einer Tochter oder das Klassenfoto von 1940 mit Erika Reinhardt – drei Jahre vor der Verschleppung Marthas und ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau am 25.03.1943 mit dem Deportationszug ab Mosbach. Und der dortigen Ermordung von Erika, ihrer Eltern, weiterer Verwandter und von Marthas eigenem dreijährigen Sohn, dem „Josefle“. Nach diesem Schicksalsschlag wurde Martha Guttenberger von der SS als Aufpasserin im „Waisenblock“, der Kinderbaracke im sogenannten „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau eingesetzt. Ein Großteil der Kinder fand dort durch fehlende Ernährung, Kälte, Krankheiten und Seuchen ohne medizinische Behandlung den qualvollen Tod, wie von den NS-Schergen beabsichtigt. Was Martha Guttenberger machtlos begleiten musste, u.a. mit noch lebenden die Toten aufstapeln. In der Not habe man sich manchmal sogar an den gerade Verstorbenen gewärmt, berichtete sie ihrer Schwiegertochter, grauenhafte Erinnerungen, die sie ihr ganzes Leben nicht mehr losließen. „So viele Kinder – wo war mein Gott?“ habe die tief religiöse Katholikin gefragt, „wie konnte Gott das nur zulassen?“ Bis zu ihrem Lebensende sei sie auf Wallfahrt gegangen, um Antwort auf die Frage zu bekommen. Sie blieb für immer im traumatisch Erlebten gefangen, hörte die Kinder in Alpträumen, die Nachts an ihrem Bett saßen, vermutete sie unter dem Tisch: „Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“ Nach der Räumung von Auschwitz vor der anrückenden Roten Armee durchlitt Martha noch die KZs Ravensbrück, Schlieben und Altenburg. Nach der Befreiung durch amerikanische Truppen beim „Evakuierung“ genannten Todesmarsch im April 1945 bei Meerane (Sachsen) ging sie zu Fuß mit anderen Überlebenden nach Ravensburg. Nach Dallau führte sie ihr Weg nicht mehr, da sie dachte, dass alle Angehörigen ums Leben gekommen seien. In Ravensburg lebte sie bis zu ihrem Tod im Ummenwinkel. Das von den Nazis 1937 errichtete primitive Barackenlager für Sinti und Roma wurde erst 1984 modernisiert und mit Strom- und Wasseranschlüssen versehen. Im Ummenwinkel lernte sie Julius Guttenberger kennen, der Auschwitz gleichfalls überlebt hatte. Sie heirateten, ihr Sohn Julius wurde der Mann von Magdalena, deren Gesprächsnotizen mit der „Zeugin eines Schlachthauses“ dem Buch das Fundament gaben und die nun in Dallau auch mit ihren Erläuterungen zu den wenigen projizierten Bildern des Buches beeindruckte. „Z 5656“ war Martha Guttenberger in Ausschwitz eintätowiert worden, die Zeitzeugin hält es in die Kamera, gegen das Vergessen. Und Autor Manuel Werner mahnt abschließend, nicht den Betroffenen die Verantwortung zuzuweisen, gegen Diskriminierung wie der Verwendung diskriminierender und kränkender Begriffe, ob auf Speisekarten oder in der Faschingszeit, vorzugehen, sondern als Mehrheitsgesellschaft Klischees, Pauschalisierungen und stigmatisierenden Zuschreibungen entgegen zu treten.