Redebeitrag von Andreas Klaffke an der Ukraine-Mahnwache vom 23. April 2022

Im Januar 1945 war er 14 Jahre alt. Genauso alt wie die Schülerinnen und Schüler meiner 8. Klasse heute, die sich scheinbar nur kurz für den Krieg in der Ukraine interessieren. Vieles scheint so viel wichtiger zu sein. Banaler, unwichtiger Kram.Geboren wurde mein Vater, von ihm will ich hier berichten, 1930 in der Westpreußischen Provinzstadt Freystadt, gleich dahinter begann der polnische Korridor, der diesen östlichen Landesteil vom Rest des Deutschen Reiches trennte.Mein Vater erzählte uns manches aus seinen Kindheitserinnerungen und zwar so genau, dass ich vor wenigen Jahren zielsicher sein Geburtshaus in Polen ausfindig machen konnte.Ich muss vorausschicken: Die Erinnerung ist ein unzuverlässiger Zeuge und ich bin kein Historiker. Gut möglich, dass das, was ich aus zweiter Hand, also doppelt unsicher, berichte, sich nur ungefähr so abgespielt hat. Aber seine Erzählungen lassen ein Bild entstehen von einer frohen, etwas verwilderten Kindheit, inmitten seiner Brüder und einer Horde Gleichaltriger, die ihre Zeit lieber in sicherem Abstand zur Fuchtel herrischer Familienväter zubrachten. Im Sommer schwirrte das Land unter der Hitze, dann ging es zum schilfumwogten Badesteg am See mitten in den schwarzen Wäldern. Die Erzählungen aus dieser Zeit vermitteln einen Eindruck von Glück, mein Vater hat sie detailliert ausgewoben.Wären meine Großeltern gute preußische Protestanten gewesen, dann hätten sie zuweilen den Gottesdienst zusammen mit dem greisen Reichspräsidenten und Steigbügelhalter Hitlers, Paul von Hindenburg, besucht, denn zu Freystadt gehörte dessen privates Landgut Neudeck.Aber meine Großeltern waren keine guten Christen – und damit beginnt die Tragik meines Berichts. Denn mein Großvater erzog seine Kinder im Ungeist der Nationalsozialistischen Partei, der er angehörte.Und so trug es sich zu, dass mein Vater den Ort seiner mutmaßlich glücklichen Kindheit mit elf Jahren verlassen musste. Nach dem Angriffskrieg gegen Polen wurden in der Reichsprovinz „Warthegau“ auf polnischem Gebiet Deutsche angesiedelt, das Land sollte „germanisiert“ werden.Und deshalb zog die Familie nach Płock an die Weichsel, von den Deutschen für kurze Zeit in Schröttersburg umbenannt. Ab diesem Zeitpunkt werden die Erzählungen statisch. Bis vor wenigen Jahren, lange nach seinem Tod, war mir der Unterschied in den Erzählfarben gar nicht bewusst. Die Orte, von denen mein Vater sprach, waren für mich kaum unterscheidbar eins.Aber sie waren es nicht: Die Familie wurde in den Besitz eines polnischen Fabrikanten einquartiert, dessen Schicksal wir uns denken können. Vor einigen Jahren erfuhr ich bei einem Besuch der Stadt von einer öffentlichen Hinrichtung polnischer Widerstandskämpfer im September 1942. Auch die Schulen der Stadt mussten antreten als 13 Menschen erhängt wurden. Mein Vater muss das mitangesehen haben. Erzählt hat er es nie.Ein- oder zweimal berichtete er von Menschen in offenen Viehwaggons auf dem Gelände des Güterbahnhofs, möglicherweise auf dem Weg in das nahegelegene Vernichtungslager Kulmhof. Aber solche Berichte blieben vage. In den Schulzeugnissen dieser Zeit bescheinigen seine Lehrer meinem Vater ein weinerliches Wesen, das den Maßstäben eines deutschen Jungen nicht standhalten konnte.Im Januar 1945 die Flucht. Nur dem Zufall einer offenen Wohnungstür, hinter der er sich verbergen konnte, ist das Glück geschuldet, dass mein Vater einen letzten Zug, der nach Westen fuhr, erreichen konnte. Wenigen historischen Quellen kann man entnehmen, dass es unter den verbliebenen deutsche Zivilisten keine Überlebenden gab. Nach der Überfahrt über die Weichsel wurden die Brücken in Thorn von deutschen Soldaten zerstört.Darüber hinaus gibt es von meinem Vater keine weiteren Details von den Erlebnissen dieser Flucht.Mein Vater war 14 Jahre alt, als er sich Anfang Februar 1945 in Niedersachsen in einer vom Ortsbauernführer vermieteten Bleibe wiederfand, die in Wahrheit ein Schweinekoben war. Und nebenbei gesagt – und daraus hat er kein Hehl gemacht: Willkommen waren diese Flüchtlinge im Westen meistens nicht. Ebenso wenig habe ich ihn je revanchistische Reden führen hören. Dass Deutschland z.B. Ansprüche gegenüber Polen erheben könnte, erschien ihm angesichts der deutschen Schuld grotesk.Das aber, was mein Vater auf dieser Flucht gesehen hat, kann nicht nur aus zwei kurzen Episoden bestehen, niemals aber hat er mehr erzählt: Eine offene Wohnungstür und eine brennende Brücke. Konnte oder wollte er nicht mehr erzählen? Hatte er vergessen oder musste er? Wollte er seine Familie schützen oder sich selbst? Das Chaos und das menschliche Leid, das die Flucht von Millionen begleitete, sind historisch belegt. Er konnte es nicht übersehen haben.Bis heute weiß ich nicht, was er darüber hinaus mit sich herumtragen musste, was nicht herauskam aus dem Mann, der mein Vater war. Er war 14 Jahre alt, so alt wie meine Achtklässler heute – und das, was er mitansehen musste, prägte sein Leben, wie das so vieler Menschen seiner Generation. Was mussten sie alle alles in sich tragen?Was sagt mir dieses unbedeutende, bald schon vergessene Schicksal meines Vaters? Manche hier auf diesem Platz werden ja ähnliche Geschichten aus ihren eigenen Familien kennen.Zum Ersten: Die Mächtigen entscheiden, wann der Krieg beginnt und werden – hoffentlich früher als später – auch entscheiden, wann er wieder zu Ende ist. Frieden kehrt damit aber nicht ein. Denn das Leid der Opfer geht weiter, häufig unbeachtet, oft ein Leben lang und manchmal sogar darüber hinaus.Deshalb sind es die Opfer, die entscheiden, wann und ob es wirklich zu Ende ist. Nicht selten sind es ja die Täter und ihre Vasallen, die schon bald fordern werden, endlich einen „Schlussstrich“ zu ziehen, und sich damit ein weiteres Mal an ihren Opfern vergehen. Vergessen wir ihnen das nicht!Zum Zweiten: Es ist Unrecht, was Putin den Menschen antun lässt, denn es tötet eine Gesellschaft physisch und seelisch; und pflanzt sich über Generationen weiter fort. Auch wenn das Schießen aufgehört hat, sickert das, was geschehen ist – und worüber häufig beide Seiten sprachlos bleiben – wie ein Gift in das Zusammenleben ein und vergiftet die Völker. In der Ukraine ebenso wie in Russland auch.Und zum Schluss: Menschen sollen einfach nur Menschen sein dürfen; sie sollen in Frieden leben und nicht fliehen müssen. Männer dürfen Männer sein, auch wenn es ihnen an Kampfesmut fehlt, sie müssen keine Krieger sein. Frauen dürfen Frauen sein, sie sind keine Verfügungsmasse des Krieges. Und 14-Jährige dürfen einfach nur 14-Jährige sein. Mit ihren scheinbar banalen Nöten. Es ist ihr Leben, es steht ihnen zu, genauso wie es meinem Vater zugestanden hätte. Denn er war, wie sie, 14 Jahre alt.