Redebeitrag von Stefaniya Ptashnyk an der Ukraine-Mahnwache vom 16. Juli 2022

Heute ist der 16. Juli 2022.

Woche einundzwanzig des russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine. Tausende von Menschenleben fielen diesem unheilvollen Krieg zum Opfer.

Immerhin, ich zähle noch die Wochen. Zu Beginn haben wir einzelne Tage und einzelne Schüsse gezählt. Ich erinnere mich sehr genau an den ersten Kriegstag.

Wir waren im polnischen Lądek-Zdrój, einem Städtchen, das früher im Sudetenland lag und Bad Landeck hieß. Ein geschichtsträchtiger Ort. Ein friedvoller Ort, ein ruhiger Ort.
In jenen Tagen schrieb gerade an meinem Buch „Glücksorte in Krakau“ und dachte daran, wie wunderbar es wäre, auch über „Glücksorte in Lemberg“ zu schreiben, über meine Heimatstadt also, in der ich mein halbes Leben verbracht hatte, bevor es mich nach Heidelberg zog.

In den ersten Tagen fielen Raketen nicht nur auf Kyiv, sondern auch in der Nähe von Lemberg. Über Glücksorte nachzudenken, schien mir plötzlich sinnlos und gar nicht möglich. Ich bangte um meine Familie und meine Freunde. Ich wünschte mir vor allem sichere und friedliche Orte für sie alle. Manche von ihnen haben inzwischen tatsächlich ihre (vorübergehende) Sicherheit in Polen, Tschechien, Deutschland oder Italien gefunden. Die meisten bleiben aber in ihren Heimatorten.

Ich bin keine Politikerin. Ich bin Wissenschaftlerin und Übersetzerin. Ich habe sehr viele Freunde unter den jungen oder auch nicht mehr jungen ukrainischen Wissenschaftlern, Intellektuellen, von allem Schriftstellern und Dichtern. Dazu gehört die junge Dichterin Liuba Jakymtschuk, die bereits 2014 ihre Familie aus dem okkupierten Gebiet Luhansk retten musste. In ihrem Elternhaus wohnen jetzt Separatisten. Dazu gehört der Schriftsteller Serhij Zhadan, der neulich mit dem „Hannah-Arendt-Preis“ ausgezeichnet wurde. Er hält unaufhörlich Stellung in Charkiv – der ostukrainischen Stadt, die seit Monaten regelmäßig beschossen wird. Ich freue mich jeden Morgen über eine Nachricht in seinem Blog, denn so weiß ich: er lebt, und seine Stadt Charkiv steht und wehrt sich. Ähnlich auch meine Jugendfreundin Halyna Kruk, die vor kurzem auf dem 23. Poesiefestival in der Akademie der Künste in Berlin sprach.

Diesen meinen Freunden, die ihre eigenen – literarische und nicht nur literarischen Fronten in der Ukraine haben – möchte ich heute eine Stimme geben bzw. mir ihre Worte leihen. Der Zitate stammen von Halyna Kruk in der Übersetzung von Claudia Dathe.

„.. in einer Situation wie dieser könnten wir Ukrainer nur schwer über Dichtung sprechen“, schreibt die Dichterin. „Gegen Leute mit Maschinengewehren helfen keine Metaphern. Wenn dein Auto, mit dem du und deine Kinder dem Krieg zu entfliehen versuchen, von einem Panzer überrollt wird, hilft kein Gedicht. Wenn du tagelang vor dem verschütteten Keller eines Hochhauses ausharrst und hörst, wie drinnen deine Kinder und Enkel schreien, du sie aber nicht rausholen kannst, ist Poesie fehl am Platze. Die Geschehnisse sind ein starker Stoff, darüber könnte ein europäischer Autor ein Buch für die Ewigkeit schreiben, das noch und noch gelesen wird. Aber jemand, der das selbst erlebt hat, wird dieses Buch nicht schreiben. Denn keiner hat die Kraft, all das durchzustehen und anschließend anderen diesen Schmerz zu erklären.

Der Krieg reißt einen Graben auf zwischen denen, die ihn erlebt haben, und denen, die sich in sicherer Entfernung befinden. Ich sehe, dass es mit jedem Tag schwerer wird, Außenstehenden zu erklären, was wir, die wir mittendrin sind, empfinden. Und mein Bedürfnis, etwas zu erklären, schwindet. Wir sprechen eine Sprache, die immer unverständlicher wird, uns ist nicht nach Dichtung. Wenn dein Mann an der Front ist, ein Teil der Verwandtschaft der furchtbaren Besatzung im Gebiet Cherson unterworfen ist und die anderen im Gebiet Charkiw unter Dauerbeschuss stehen; wenn du ständig auf den nächsten Luftalarm gefasst sein musst, weil dann manchmal wirklich was angeflogen kommt, das tötet – dann ist es schwer, erhaben zu sein. Dichtung fasst sich dann in eigenen Formen, als spontanes Gebet, als Lamento oder sogar Fluch wider den Feind. Der zeitgenössischen europäischen Dichtung sind diese Formen der Dichtung fremd, sie sind … sehr pathetisch und intolerant. Es ist schwer, einem Feind gegenüber tolerant zu sein, der dich oder deine Kinder tötet. Wenn er nämlich die einen getötet hat, nimmt er sich die nächsten vor. Ich glaube nicht, dass Sie darüber erhaben sein könnten.
Gegenwärtig ist ein Fünftel meines Landes vorübergehend besetzt. Und leider ist das keine Metapher. Die Menschen aus den besetzten Gebieten werden getötet, terrorisiert, in Filtrationslager nach Russland verschleppt, Eltern und Kinder getrennt, entnationalisiert. Keine Dichtung hat dafür Worte. Auf meinem Facebook-Thread wimmelt es von Fotos von unglaublich schönen Menschen – Männer und Frauen, Eltern, Kinder, die von Russland ermordet worden sind. Das ist keine Metapher. Facebook blockiert oder entfernt diese Fotos als Information mit einem sensiblen Inhalt, der die Nutzer der sozialen Medien verstören könnte. Diese Menschen sind nicht zur Welt gekommen, um im Krieg zu sterben, sie haben nicht ihren Hochschulabschluss gemacht …, um im Krieg zu sterben, haben nicht ihre Talente entfaltet, um im Krieg zu sterben. Der Verlust dieser Menschen reißt eine klaffende Wunde, die bleibt – in unseren Seelen, in unserer Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Industrie, Gesellschaft. Das ist keine Metapher.

Ich kenne keine Dichtung, die diese Wunde heilen könnte. Dieser Krieg bringt uns alle um, jeden auf seine Weise, obwohl wir äußerlich vielleicht heil und unversehrt aussehen, doch wir bewegen uns jetzt in kleinen Sprüngen fort, selbst in einem offenen Raum, unter lauten Tönen zucken wir zusammen und unsere kleinen Kinder, die die Erfahrung machen mussten, unter Beschuss im Keller zu sitzen, weinen nicht, wenn sie Angst haben. Selbst die Kleinsten wissen schon, dass Weinen sie das Leben kosten kann. Und auch das ist keine Metapher. Der Krieg vereindeutigt alles in einem Maß, dass für Dichtung praktisch kein Raum mehr bleibt. Nur noch für Zeugenschaft.“

Soweit Halyna Kruk. Es ist nur eine Stimme von vielen. Aber es ist eine sehr starke Stimme, die kein Vergessen erlaubt. Seit dem 24. Februar ist es mir persönlich sehr wichtig geworden, regelmäßige Lebenszeichen zu senden und zu empfangen. Wo bist Du jetzt? Wie war die vergangene Nacht? Hoffentlich ohne Luftalarm? Und wann hören wir uns wieder? Obwohl sich die unaufhaltsame Kriegsmüdigkeit in allen europäischen Ländern ausbreitet, obwohl wir der Schreckensbilder inzwischen mehr als überdrüssig sind, dürfen wir nicht vergessen, dass gerade mal zweitausend Kilometer oder gar weniger von hier entfern, mitten in Europa sich ein grausamer Krieg abspielt und nicht aufhören will. Und es ist keine Metapher.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!